Nachhaltig mobil, Seilbahn inklusive?

Ob Regionalstadtbahn, Fahrradbrücken, Carsharing oder nachhaltige Stadtentwicklung – die deutsche Universitätsstadt Tübingen setzt schon länger auf zukunftsfähige Mobilität und auf eine Infrastruktur der kurzen Wege. Nun ist auch eine urbane Seilbahn im Gespräch – als Alternative für eine innerstädtische Bahnlinie.

Konkret handelt es sich um die Innenstadtstrecke der geplanten Regional-Stadtbahn. Während die Eisenbahn- linien im Umland auf breite Zustimmung stoßen, ist deren Innenstadtstrecke umstritten: Nicht netzdienliche Sackgassen, Staugefahr durch starre Schienen, massive Eingriffe in das Stadtbild, Abriss bestehender Infrastruktur, massive Kosten, langjährige Großbaustellen, fragwürdige ökologische Gesamtbilanz, elektromagnetische Strahlung und Erschütterung… – die Nachteile sind zahlreich.

Deswegen hat die Stadt Tübingen bei den Planern und Ingenieuren von Ramboll und Novaplan eine Alternativprüfung in Auftrag gegeben. Die Verkehrspolitik betrifft 88.500 Stadtbewohner (darunter 30.000 Studierende) und 140.000 Menschen im Umland. Rund 33.400 Personen pendeln täglich nach Tübingen, 15.600 von dort ins Umland.

Von acht Massentransportsystemen sind laut Gutachten nur zwei sinnvoll: Elektrisch angetriebene Busse oder urbane Seilbahnen. Beide Systeme sind am Markt verfügbar und könnten sofort eingeführt werden – und damit weit vor 2030 zu Verbesserungen der Klimabilanz führen.

Sowohl der Elektrobus als auch die Seilbahn sind wesentlich günstiger, später leichter an veränderte Bedingungen und Bedarfe in der Stadt anpassbar und technologieoffen. Zudem können weitere Verbesserungen sofort umgesetzt werden, etwa Tangentiallinien.

Tübingen

Effekt Seilbahn: Rund 4.650 zusätzliche öffentliche Fahrten täglich.

Alternativkonzept Seilbahn

Mit Blick auf die urbane Seilbahn wurden mehrere Trassen auf verkehrliche Wirkungen und technische Machbarkeit überprüft. Als umsetzbar wurde eine Einseilumlaufbahn zwischen dem Hauptbahnhof und dem Technologiepark bzw. dem Studentendorf WHO identifiziert – mit einer Reisezeit von insgesamt 21 Minuten.

Die Strecke passiert dabei mehrere Points of Interest, darunter drei Kliniken und eine Kunsthalle. Am Hauptbahnhof soll die Seilbahn eng mit den Bahnsteigen verzahnt werden, um die Umstiegssituation für Pendler ideal zu gestalten. Die Kosten werden auf 160 Millionen Euro geschätzt – wobei mit 37,5 Millionen Euro ein großzügiger Aufschlag für Unvorhergesehens mit einberechnet wurde.

Die Gutachter gehen davon aus, dass die Seilbahn rund 4.650 zusätzliche Fahrten im öffentlichen Verkehr pro Tag bewirken kann – und damit nicht nur die Kernstadt, sondern auch den Stadtrand und das Umland von Stau entlasten kann: 2.400 Fahrten verlagern sich vom Auto in die Seilbahn, 2.250 Fahrten werden in der Seilbahn zusätzlich unternommen (induzierter Verkehr).

Seilbahn aus Sicht der Nutzer

Die Nutzer der Seilbahn profitieren laut Gutachten von deutlichen Reisezeitgewinnen und der Verkürzung der Wartezeiten – sowohl Innenstadtbewohner als auch Pendler, die am Hauptbahnhof verbessert umsteigen können. Zudem können sich die Fahrgäste über zuverlässigen, anschlusssicheren und stets verfügbaren Transport freuen, die zentrale Verkehrsachse wird vermehrt bedient. Für Nutzer am Stadtrand und im Umland

ist zudem die Einführung von Mobilitätshubs interessant. Auch die mögliche Fahrradmitnahme ist ein positiver Aspekt. Kritischer sind dagegen die geringere zusätzliche Erschließungswirkung, sowie tendenziell längere Umsteigezeiten zu bewerten. Denn falls die Seilbahn gebaut wird, fallen im Gegenzug Buslinien zur Feinverteilung der Fahrgäste weg.

Oberbürgermeister Boris Palmer lässt Ende 2021 seine Bürger über eine Seilbahn in Tübingen abstimmen. Bilder: Stadt Tübingen

Seilbahn aus der Sicht der Allgemeinheit

Der größte Pluspunkt für die Stadt als ganzes sind die fehlenden Konfliktpunkte der Seilbahn mit anderen Verkehrsmitteln. Zudem spart die Seilbahn am Busverkehr ein – wenn das städtische Busnetz entsprechend angepasst und an die Seilbahn angeschlossen wird. So könnten elf Prozent der Buskilometer und elf Fahrzeuge (minus 18 Prozent) eingespart werden.

Auch die Reduktion des Pkw-Verkehrs und die geringe Lärmemissionen spre- chen für die Seilbahn. Zudem ist das System sehr sicher und bietet mit seinen Kabinen Privatsphäre. Kritisch sind laut den Gutachtern der benötigte Grunderwerb und die – im Vergleich zum Bus – hohen Investitionskosten zu sehen; sowie der Kostenaufwand für Erweiterungen des Seilbahnnetzes.

Seilbahn aus Sicht der Betreiber

Für Betreiber einer Seilbahn sind im wesentlichen zwei Punkte vorteilhaft: Erstens, die hohe Beförderungsgeschwindigkeit von durchschnittlich 28,9 km/h (+0,4 km/h). Zweitens, die Unabhängigkeit der Seilbahn mit berechenbarer Pünktlichkeit. Lediglich die (seltene) Windanfälligkeit und die Unflexibilität bei einer Störung sind laut Gutachten kritisch zu sehen, vor allem da in diesem Fall eine größere Reserve im Stadtbusbereich erforderlich ist.

Bürger entscheiden über Seilbahn

Die Gutachter sehen die höchste Angebotsverbesserung entlang der Seilbahntrasse, die Wirkungen auf die Stadt-Umlandverkehre ist laut ihnen vergleichsweise moderat. Für die Seilbahn spricht zudem, dass die Investitionen zu etwa 90 Prozent förderfähig sein können.

Jedoch gilt es, rechtliche Rahmenbedingungen und die Flächenverfügbarkeit zu klären, da eine Seilbahn einen signifikanten Eingriff in das städtebauliche Erscheinungsbild darstellt. Nun sind jedenfalls die Einwohner am Zug: Sie beschließen in einem Bürgerentscheid Ende 2021, ob die Seilbahn gebaut wird. ts

KOSTENPROGNOSE

Investitionen Seilbahn

10% Baustelleneinrichtung

75.000.000 €

und Verkehrsführung

50% Aufschlag für

7.500.000 €

Unvorhergesehenes

37.500.000 €

20% Planungskosten

15.000.000 €

19% MwSt.

25.650.000 €

Gesamtkosten Brutto

160.650.000 €